Vor ein paar Tagen erhielt ich eine Interview-Anfrage. Jemand wollte für ein Magazin eine Story über das Ghosting schreiben und suchte nach einem Erfahrungsbericht. Nach kurzem Zögern zeigte ich mich einverstanden, denn es ist mir ein Anliegen, dass Betroffene wissen, dass sie nicht allein sind, wenn sie in solch eine Situation kommen. Ich legte ein paar Regeln fest, unter anderem die, dass der Ghost nicht verteufelt werden solle – Menschen, die meine Geschichte näher kennen,  verzeihen mir bitte den Wortwitz, mir fällt gerade keine andere Beschreibung ein. Wir telefonierten, um näheres zu besprechen und ich erzählte grob umrissen noch einmal meine Geschichte.

Gestern Abend kam die Absage per Mail. Man wünsche sich doch lieber die Story, dass jemand vom „Zigaretten holen nicht wieder gekommen sei“. Mit anderen Worten: Meine Geschichte hat nicht genug Drama in sich, weil ich nicht die Frau mit Kleinkind bin, deren Mann nach 5 Jahren Ehe von jetzt auf Gleich verschwunden ist. Ich akzeptiere das mal so, allerdings nicht ohne mich zu wundern.

Mir schreiben Menschen die Ghosting in den unterschiedlichsten Konstellationen erfahren haben. Zum Teil sicher auch solche, bei denen man das klassische „Zigaretten-holen“- Muster erlebt hat. Es gibt aber auch viele andere Konstellationen, bei denen ich durchaus von Ghosting sprechen würde. Da ist die Frau, die seit Jahren eine Affäre mit einem verheirateten Mann hat, die Pläne mit ihm schmiedet für die Zukunft – und plötzlich meldet er sich nicht mehr, kommt nicht mehr vorbei und ignoriert sie komplett. Da ist der Mann, dessen Frau von einem Tag auf den anderen mit Kind und Kegel das Haus verlassen hat und von der Familie komplett abgeschirmt wird und jeden Kontakt verweigert. Da ist das befreundete Ehepaar, was nach 20 Jahren enger Freundschaft mit gemeinsamen Urlauben ohne jegliche Begründung den Kontakt einfach abbricht. Da ist die Alleinerziehende, die endlich einen neuen Partner gefunden hat, der auch das Kind akzeptiert und sich gut mit ihm versteht und alles läuft toll, bis er sich auf einmal nicht mehr meldet. Und ja, es gibt auch die reinen Fernbeziehungen, Menschen, die sich bisher nie real treffen konnten und dennoch eine sehr starke Verbindung miteinander haben, bis einer entscheidet, den anderen einfach stehen zu lassen. Gerade letzteres ist in der jetzigen Pandemie-Zeit tatsächlich ein zunehmendes Geschehen, weil Reisen halt nur erschwert möglich ist.

All das und noch viel mehr sind Ghosting-Erfahrungen. Nun kann man natürlich hingehen und sagen: Ja, wenn nach 20jähriger Freundschaft der Kontakt abgebrochen wird, ist das schlimmer, als wenn 2 Menschen eine monatelange Fernbeziehung hatten und dann einer verschwindet. Ich halte das aber für falsch. Denn die Mails und meine eigenen Erfahrungen zeigen mir: Beides ist dramatisch für die Betroffenen. Und in beiden Fällen mischen sich Gefühle von Verletzung, Frust, Angst, Selbstzweifel, Verzweiflung und mehr ineinander und wechseln sich ab.

Ich glaube lediglich, dass es einen Unterschied gibt, wie man damit fertig wird und ich glaube, sagen zu können, was tatsächlich in den Einzelfällen hilft. Es gibt aber auch Fälle, mit denen ich länger Kontakt hatte und bei denen ich angeregt habe, sich professionelle Hilfe zu holen, wenn jemand über längere Zeit mit körperlichen Symptomen wie Appetit- und Schlaflosigkeit, Panikattacken, Übelkeit und selbstverletzendem Verhalten auf eine Ghosting-Erfahrung reagiert hat. All das und noch weitere Symptome hatte ich auch, nachdem mein Ghost verschwunden war – und das ganz ohne, dass wir 5 Jahre verheiratet waren, ein gemeinsames Kind hatten und er einfach vom Zigaretten-holen nicht wieder kam. Kurios, oder? Aus heutiger Sicht hätte ich meinem damaligen Ich in jedem Fall auch professionelle Hilfe angeraten, auch wenn ich weiß, dass mein damaliges Ich das nicht angenommen hätte.

Darf man Gefühle werten? Sind meine Gefühle oder auch die Symptome, die ich hatte, nachdem mein Ghost verschwunden ist, weniger ‚wert‘, als wenn es die „Zigaretten-holen-Story“ gewesen wäre? Ich wage es zu bezweifeln. Im Übrigen habe ich die Erfahrung gemacht, dass der klassische Zigaretten-holen-Betroffene am Anfang zwar genau dasselbe durchmacht, aber oft recht schnell damit durch ist – weil man vielleicht mehr im Leben steht und sich einfach dann auch um andere Dinge kümmern muss, wie die Miete allein zu zahlen oder den Alltag plötzlich allein zu organisieren. Trotzdem leiden diese Menschen unter einer Ghosting-Erfahrung! Aber sie können sich schlichtweg nicht die Zeit nehmen, sich ausführlich mit dem Drama zu beschäftigen. Dort passiert dann vieles unterbewusst (was auch nicht schön ist und auch Beachtung finden muss). Aber nach außen hin ist da meist langfristig nur wenig Drama zu sehen.

Es gibt diesen Song von Udo Jürgens „Ich war noch niemals in New York“, der das Bild der klassischen Ghosting-Erfahrung füttert. Der Mann verlässt die gemeinsame Wohnung, um Zigaretten zu holen und überlegt sich, wie es wäre, einfach nicht mehr zurück zu kommen. Ich glaube, das ist es, was die meisten unter Ghosting verstehen. Allerdings ist dieser Song von 1982. Heute funktioniert das Leben doch völlig anders als noch vor beinahe 40 Jahren. Heute sind Beziehungen vielschichtiger, man hat andere Familien- und Beziehungsmodelle und andere Möglichkeiten, sich kennen zu lernen. Daher halte ich die Idee, Ghosting nur mit dem „Zigaretten holen-Problem“ zu assoziieren für genauso überholt (was nicht heißt, dass das Lied schlecht ist ;)).

Es ist schade, dass der Großteil der Menschen nicht bereit ist, einfach mal die Gefühle eines anderen zu akzeptieren. Aber genau das ist das Problem beim Ghosting. Egal, ob du Freunde und Familie um dich herum hast, sie werden nicht verstehen können, wie du dich fühlst, wenn du geghostet wurdest, wenn es ihnen nicht selbst mal passiert ist. Für Menschen ist es unverständlich, wie es ist, mit einer Sache nicht abschließen zu können, wenn sie diese Erfahrung nie machen mussten (ich gönne es jedem, diese Erfahrung nicht machen zu müssen).

Allerdings würde es Betroffenen auch einfach schon helfen, wenn man aufhören würde, diese Gefühle von außen zu bewerten, sondern stattdessen einfach akzeptieren würde, dass sie da sind. Für Betroffene sind Sprüche wie „Der/die hat dich doch gar nicht verdient!“ nicht hilfreich, denn als Betroffener ist es ein großes Problem, dass man nicht weiß, ob man selbst durch das eigene Handeln den anderen „vertrieben“ hat. Viel hilfreicher wäre es, wenn man einfach da ist, zuhört (wenn derjenige erzählen möchte) und dem Betroffenen die Zeit lässt, die er benötigt, um die Sache zu verarbeiten. Ohne zu werten, wie viel Anrecht der Betroffene darauf hat, sich schlecht zu fühlen.

Aber nun ja, es ist wie es ist. Und offenbar sind 18 Jahre Ghosting-Erfahrung mit diversen körperlichen Symptomen und langfristigen Auswirkungen auf Privat- und Berufsleben nicht genug Drama. Weil es halt nicht die „Der Mann geht zum Zigaretten holen und kommt nicht zurück“-Storyline ist. Ich werde aber trotzdem nicht anfangen, die Nachrichten, die mich zu dem Thema von Betroffenen erreichen in irgendeiner Form zu werten. Ich werde weiter zuhören und wo ich kann Hilfestellung und Beratung anbieten. Und zwar ausdrücklich auch für die ohne viel nach außen ersichtliches Drama. Und das auch ganz ohne öffentliche Artikel und Interviews – aber wer weiß, vielleicht mach ich ja mal ein Buch draus…

Sunny

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